Am 1. August 2024 ist Andreas Borter, Mitgründer von männer.ch, gestorben. Ein Nachruf.
Am 1. August 2024 ist unser Gründungsmitglied, fachlicher Leiter, Mentor und Freund Andreas Borter im Beisein seiner Familie an den Folgen einer Herzerkrankung gestorben. Andreas wurde 73 Jahre alt. Auch wenn er sich mit seiner Pensionierung 2017 aus dem operativen Tagesgeschäft von männer.ch zurückgezogen hat, reisst sein Ableben eine schmerzhafte Lücke in unsere Reihen. Ganz ohne Übertreibung können wir sagen: Ohne Andreas’ Wirken gäbe es männer.ch fachlich und programmatisch nicht in der heutigen Form.
Pionier und Brückenbauer
Andreas’ Auseinandersetzung mit Männer- und Väterthemen begann Mitte der 1980er-Jahre. Die Geburt seines behinderten Sohnes war dabei ein prägendes biografisches Erlebnis. Als Theologe in der Erwachsenenbildung und Leiter des damaligen Bildungszentrums Gwatt der reformierten Kirche Bern-Jura-Solothurn war er einer der ersten in der Schweiz, der Seminare zu Mannsein und Spiritualität anbot und Vater-Kind-Aktivitäten organisierte. Er begann sich im deutschsprachigen Raum zu vernetzen und war parallel zur konkreten Projektarbeit zunehmend in der Theoriebildung engagiert. Für Andreas war immer klar: Männerarbeit ist Friedensarbeit. Ohne kritische Auseinandersetzung von Männern und Vätern mit sich und ihren verinnerlichten Geschlechternormen kann keine gerechte Gesellschaft entstehen. Früh realisierte er auch, dass für eine Männerarbeit mit Breitenwirkung über die Kirchen hinaus Fachpersonen ausgebildet werden mussten. So holte er ab 1994 das Göttinger Institut für Männerbildung in die Schweiz, welches mit seiner Fortbildung «Kontakt und Autorität» vielen Engagierten professionelles Knowhow für die Männerarbeit vermittelte.
In Bern baute er «Männer unterwegs mit Männern» (MUMM) mit auf, den Trägerverein des Berner Männerbüros. Er war auch bei den ersten Vernetzungstreffen aller regionaler Männerbüros in der Schweiz massgeblich beteiligt. Zusammen mit einer Arbeitsgruppe erarbeitete er im Auftrag von Radix Gesundheitsförderung das erste schweizerische Männergesundheitsmanifest. Dieses Engagement befeuerte auch die zwei Fachtagungen zur Männergesundheit in Münsingen (1998) und Winterthur (2002), die ihrerseits den Boden für die Gründung von männer.ch schufen.
Andreas war in vielen Themen rund um Geschlechtergerechtigkeit der Zeit voraus und richtete seinen Blick immer wieder auf das, was noch in die öffentliche Debatte eingebracht und praktisch umgesetzt werde müsste. Dies zeigte sich auch an seinem Engagement für das «Netzwerk geschlechterbewusste Theologie» im deutschsprachigen Raum. Er besuchte theologische Konferenzen in den USA und sah schon vor zwanzig Jahren, dass die Fragen von Geschlechtergerechtigkeit und -vielfalt auch in Europa prägende Themen werden würden. Für ihn war klar, dass es zur Realisierung gerechter Geschlechterverhältnisse unbedingt Allianzen von Frauen-, Männer- und queeren Bewegungen brauchte. Ebenso beteiligte er sich an der Förderung der theologischen Männerforschung. Er schuf Kontakte zum amerikanischen Arbeitskreis «men’s studies in religion» und war im Leitungsteam der ersten Tagung zur theologischen Männerforschung in Frankfurt zum Thema «Jesus & die Männer» (Frankfurt 2013). Auch das war charakteristisch für Andreas’ Art: Tatkräftig im Anpacken, um Neues zu lancieren – und bescheiden im Zurückstehen, um das Neue in sorgsamen Händen weiter wachsen zu lassen.
Trotz reger Resonanz an der Basis stiess er in den Kirchen institutionell zuweilen auf wenig Gehör. Beharrlich versuchte er, das Thema «Männlichkeit(en)» auch in den innerkirchlichen Debatten einzubringen, zum Beispiel die Relevanz deutscher Studien zur Männerentwicklung oder das Thema Sexualität und Missbrauch. Er setzte sich für eine spezifische Männerseelsorge ein und war bis zuletzt aktiv in der Fachgruppe «Männerarbeit im kirchlichen Kontext» von männer.ch. Noch wenige Wochen vor seinem Tod meldete er sich aus Italien von einer Studienreise zu den Wirkstätten des Mystikers Josua Boesch, wo er sein wohl letztes von zahlreichen Referaten zum Thema Spiritualität und Männlichkeit hielt.
Mentor und Aktivist
Dass die Landeskirchen in der Schweiz – ganz anders als in Deutschland oder Österreich – mit der Männer- und Väterarbeit «fremdelten», dürfte für Andreas mit Motivation gewesen sein, sich von Anfang an stark am Aufbau von männer.ch zu beteiligen. So unterstützte er bereits die Gründung von männer.ch am 27. Juni 2005 mit seiner Präsenz an der Medienkonferenz als Experte. 2006 war er eine der treibenden Kräfte hinter der Lancierung des Schweizer Vätertags. Mit einem beherzten Votum überzeugte er die Mitglieder, den «Vatertag» als «Vätertag» zu konzipieren, um der politisch-gemeinschaftlichen Dimension väterlichen Engagements mehr Beachtung zu verschaffen. Auch damit bewies er seinen Riecher für gesellschaftliche Trends.
Im Sommer 2010 liess sich Andreas in den Vorstand von männer.ch wählen. Ab 2012 wirkte er als fachlicher Leiter und bildete gemeinsam mit dem Präsidenten von männer.ch und dem Chefredaktor der Männerzeitung den geschäftsführenden Ausschuss. In dieser Phase entwickelte sich das heutige Selbstverständnis von männer.ch, gemäss dem wir nicht «nur» politische Stimme der geschlechterpolitisch progressiven Männer und Väter in der Schweiz sind, sondern auch Fachverband und Fachstelle. In dieser Zeit stand männer.ch auch immer wieder im Brennpunkt des öffentlichen Interesses. Als Kämpfer für ein gemeinsames Sorgerecht, als Antipoden zu den erstarkenden Antifeministen oder als Kritiker am staatlichen Gleichstellungsfeminismus mussten wir kommunikativ und politisch anspruchsvolle Gratwanderungen meistern. Mit Biss, Instinkt und Demut unterstützte Andreas die Suche nach dem passenden Weg. Regelmässig erweiterte er unsere Perspektiven durch Hinweise auf das, was (noch) nicht im Blick war. Immer wieder bewies er ein hervorragendes Gespür, in welchen Momenten welche Kontakte zu pflegen und welche Themen zu lancieren waren.
2013 identifizierte die Oak Foundation mit Sitz in Genf männer.ch als strategischen Partner zur Förderung väterlichen Engagements in der Schweiz. Andreas entwickelte dank dieser Unterstützung das nationale Programm MenCare Schweiz, das 2016 öffentlich lanciert wurde und bis heute den strategischen Rahmen für unsere Arbeit vorgibt. Im Dezember 2014 gründeten wir das Schweizerische Institut für Männer- und Geschlechterfragen (SIMG) als gemeinnützige GmbH im Besitz von männer.ch, um die vielfältige Fachlichkeit zu bündeln und weiter zu entwickeln. So die Erfahrungen und Expertise aus 30 Jahren Männer- und Väterarbeit sichern und weitergeben zu können, war für Andreas ein erfüllender und auch versöhnlicher Abschluss seines beruflichen Wegs. Ganz besonders freute er sich über die Chance – nach verschiedenen erfolglosen Kooperationsversuchen mit Fachhochschulen – einen eigenen Lehrgang für geschlechterreflektierte Männerarbeit zu entwickeln. 2016/2017 wurde der erste Zyklus durchgeführt, der bis heute die Grundlage für die Bildungsarbeit von männer.ch legt. Hier wurde für Andreas ganz konkret spürbar, wie die Saat seiner Arbeit Früchte trägt und Zukunft schafft. Immer wieder hat er zum Ausdruck gebracht, wie sehr ihn das freut und berührt.
So still, zuverlässig und selbstlos Andreas meist im Hintergrund wirkte, so sehr genoss er die auch internationale Beachtung für seine Pionierarbeit. So folgte er Einladungen bis nach New York oder Capetown. Trotzdem war nicht die grosse Bühne der Antrieb seines Engagements, sondern die ganz konkrete Wirkung im Feld: die Arbeit mit Männern, Vätern und ihren Kindern, die Reibung, der Austausch, das Weitergeben, das fordernde Fördern. Immer stärker wurde im Lauf der Jahre der aktivistische Ehrgeiz, dem Andreas mit viel Pragmatismus und Weitsicht, Cleverness und Machtbewusstsein folgte, aber ohne Abstriche an seinen fachlichen Ansprüchen und persönlichen Werten hinzunehmen.
Unauffällig in der äusseren Erscheinung, ambitioniert im Wirken und aufrührerisch im Denken war Andreas fachlich und programmatisch eine prägende Figur in der Entwicklung von männer.ch. Gern irritierte er zuweilen mit bewussten Provokationen. Überhaupt profitierten wir massiv von seiner Expertise als Organisationsentwickler, der sich auch nicht davor scheute, schwierige Themen anzusprechen und unerwartete Perspektiven einzubringen. In dieser Rolle arbeitete er oft mit einem Baum als Metapher für Organisationen: Die Blätter symbolisieren die Projekte und Aktivitäten. Sie kommen und gehen. Stabilität und Identität aber geben die Organisationsform und -kultur, symbolisiert im Stamm, und die Werte, symbolisiert in den Wurzeln des Baumes. Sie bleiben. Auch deshalb war es für Andreas unverzichtbar, auf ein gesundes Wachstum als Organisation zu drängen, Konflikte offen und fair auszutragen, eine andere Kultur des mitmännlichen Umgangs zu entwickeln, Befindlichkeiten Raum zu geben, nicht zu schnell zu viel wollen. Auch auf dieser Ebene hinterlässt Andreas tiefe Spuren – und eine grosse Lücke.
Mit Andreas verlieren wir viel zu früh einen herzensguten Weggefährten und Mentor. Mit enorm viel Fleiss und Ausdauer hat er sich zeit seines beruflichen Lebens in den Dienst der guten Sache gestellt. Dass diese grösser wird als er selbst hat Andreas nicht nur hingenommen, sondern aktiv angestrebt. Seine Grosszügigkeit ist vermutlich ein wesentliches Element, weshalb gerade die jüngeren Generationen Andreas so viel Wertschätzung und Dankbarkeit entgegenbringen. Wir werden Andreas mit seiner einzigartigen Verbindung von fachlicher Kompetenz, visionärer Kraft und herzlicher Präsenz in der Bewegung zukunftsorientierter Männer schmerzlich vermissen.
Christoph Walser
Christoph Walser ist Gründungsmitglied von männer.ch, Theologe und Coach sowie ehemaliger Männerbeauftragter der reformierten Kirche des Kantons Zürich.
Markus war 2005 bis 2015 Gründungspräsident von männer.ch. Seit 2016 ist er Gesamtleiter von männer.ch und in dieser Funktion auch Leiter des nationalen Programms MenCare Schweiz. Daneben ist er mit seiner Social Affairs GmbH als Organisations- und Strategieberater tätig. Er lebt mit seiner Familie in Zürich.