An der Mitgliederversammlung vom 26. Juni wurde Nathan Schocher in den Vorstand von männer.ch gewählt. Im Interview erzählt er, warum er sich für männer.ch engagiert und wie er den Verband mitgestalten will.
Nathan, du hast ein Doktorat in Gender Studies gemacht, setzt dich für LGBTI-Anliegen ein, arbeitest im Gleichstellungsbereich und bist selber Vater im Rahmen einer Regenbogenfamilie: Welche Ecke deines Lebenslaufs hat dich für ein Engagement bei männer.ch motiviert?
Schocher: Ich sehe viele Anknüpfungspunkte, die die Arbeit im Vorstand für mich interessant machen. Die Hauptmotivation ist für mich aber doch, dass männer.ch in meiner Wahrnehmung ein Verein ist, der hauptsächlich heterosexuelle cis Männer anspricht. Das finde ich schade. Denn auch schwule, trans und bisexuelle Männer leisten wichtige Beiträge für mehr Geschlechtergerechtigkeit. Als Projektleiter mit Themenschwerpunkt LGBTI bei der Fachstelle für Gleichstellung der Stadt Zürich bin ich nahe bei Communities, die sich noch nicht so vertreten fühlen. Da kann ich Verbindungen schaffen.
Als neuestes Vorstandsmitglied hast du zurzeit noch einen frischen Blick von aussen. Wo ist der Einsatz von männer.ch für mehr Geschlechtergerechtigkeit spürbar? Und wo noch zu wenig?
Schocher: Der Einsatz für Väter ist sehr gut spür- und sichtbar. Mit Projekten wie zum Beispiel der neuen Plattform für werdende und frischgebackene Väter www.niudad.ch. Auch politisch-gesellschaftlich ist männer.ch hier präsent mit dem Engagement im Initiativkomitee für den Vaterschaftsurlaub oder Kampagnen, die Männer motivieren, mehr Carearbeit zu übernehmen.
Noch zu wenig nehme ich männer.ch wahr, wenn es um Themen wie geschlechterspezifische Gewalt oder sexuelle Belästigung geht. Hier finden aktuell wichtige Debatten statt. Verschiedene unserer Kollektivmitglieder (Männerbüros, Fachstellen für Gewaltberatung, etc.) sind relevante Akteure in diesem Feld, leisten wertvolle Arbeit und haben wichtiges Praxis-Knowhow. Eine geschlechtergerechtere Gesellschaft ist auch eine Gesellschaft mit weniger geschlechterspezifischer Gewalt. Hier könnten wir auf Stufe Dachverband präsenter sein.
Wofür möchtest du dich im Vorstand besonders einsetzen?
Schocher: Einerseits möchte ich im Vorstand meine Lebensrealität als schwuler Mann und Vater in einer Regenbogenfamilie einbringen und damit auch die Perspektive einer Community, die bisher auf Stufe Vorstand nicht vertreten war. Andererseits will ich zum fachlichen Niveau der Debatte beitragen. In der Geschlechterpolitik passiert zurzeit wahnsinnig viel. Es kommen viele neue Themen auf. Das macht es nicht einfach, up-to-date zu bleiben.
Durch meine berufliche Tätigkeit bin ich täglich im direkten Kontakt mit Fachleuten aus dem ganzen Spektrum der Gleichstellungsarbeit. Ich bin dadurch sehr nahe an aktuellen Debatten. Und natürlich bringe ich mit meinem fachlichen Hintergrund auch auf theoretischer Ebene Wissen mit zu Themen wie Geschlechtsidentität, Sexualität und Geschlechterverhältnisse.
Achtung. Jetzt kommt eine Challenge: Dreifachfrage! Was brauchen Männer heute, damit es ihnen in unserer Gesellschaft als Männer gut geht? Und was braucht die Gesellschaft für Männer, damit es allen möglichst gut geht? Und passt das zusammen?
Schocher: Ich steige bei Gesellschaft ein: Wir brauchen Männer, die bereit sind, ihr Selbstverständnis und ihre eigenen Privilegien zu hinterfragen. Die sich durch Gleichstellungsbemühungen nicht bedroht sehen, sondern erkennen, was es für sie dabei zu gewinnen gibt – nämlich Freiheit. Freiheit von gewissen Männlichkeitsanforderungen, die die Gesellschaft oder verinnerlichte Stereotype traditionell an die Männer stellen. Damit das gelingt, brauchen Männer eine gewisse Entspanntheit. Sie müssen sich wohl fühlen mit sich selber, mit ihrem Körper – ihre Bedürfnisse kennen. Wenn das gegeben ist, gibt das die nötige Sicherheit, den eigenen Weg zu gehen und (auch innere) Veränderungsprozesse zuzulassen.
Und wie gelangt man zu dieser Entspanntheit?
Schocher: Das ist eine grosse Frage: Vielen Männern wurde im Laufe ihres Lebens abtrainiert, sich zu spüren. Was es braucht, ist mehr Verbundenheit mit eigenen Wünschen und Emotionen. Es ist aber schwierig, diese Verbundenheit aufrechtzuerhalten in einer Welt, in der von den Männern sehr viel gefordert wird: Leistung im Beruf, Verantwortung übernehmen für die Familie und jetzt kommt auch noch der Anspruch dazu, Privilegien zu hinterfragen. Da ist es verständlich, dass es zum Teil gereizte Reaktionen gibt. Für mehr Entspanntheit braucht es mehr Raum für Fragen wie: «Wie fühle ich mich?», «Wie möchte ich leben?» «Wie wäre es mir wohl?» und weniger Druck, ständig zu performen.
Zum Abschluss noch eine persönliche Frage: Was für ein Mann bist du?
Schocher: Ich bin ähnlich wie viele moderne Männer: Ich bin ein Multitasker; probiere ein guter Vater zu sein, ein guter Partner zu sein, einigermassen sinnvolle Arbeit zu leisten und dabei auch noch ein bisschen Spass zu haben im Leben. Damit bin ich meistens schon recht ausgelastet. Das ist die Art Mann, die ich im Moment bin.
Thomas Neumeyer ist seit Februar 2022 Leiter Betrieb und Kommunikation bei männer.ch